Also, der gewerkschaftliche Einigungsprozeß war ein Werk von einigen wenigen Leuten. Er war nicht die Überzeugung der Organisation, ich sage mal, es war nicht der Wunsch und der Wille der Organisation. Ich formuliere es mal so hart, wie ich das sehe, weil sich das heute auch zeigt. Aber – ich habe das immer so empfunden. Das hängt mit dem zusammen, was ich vorhin schon gesagt habe, daß eben eine politische Einstellung vorhanden war, die, auch bei mir, den Osten längst abgeschrieben hatte. Es ist leider nicht gelungen, als es im Osten brach, umzudenken und zu sagen, jetzt tragen wir eine gemeinsame Verantwortung. Das war eher lästig. Das wollten wir eigentlich nicht. Wir hatten uns ja bequem eingerichtet in unserer West-ÖTV. Es gab jedoch einige Leute, die sich für die gemeinsame Sache verantwortlich fühlten. Das waren diejenigen, die unmittelbar berührt waren, also die Grenznahen und die Berliner. Die hatten Kontakte und sind mit Begeisterung und mit dem Willen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, an die Arbeit gegangen. Es gab andere, die mehr mit einem karitativen Anspruch bereit waren, zu helfen. Ich will das überhaupt nicht bewerten. Die meisten jedoch haben gesagt, was soll der Scheiß, was im Osten passiert, wird uns im Westen Geld kosten. Das war ja abzusehen, und deshalb gab es keine große Bewegung in der ÖTV. Es war eine Bewegung, die einige Leute vollzogen und gemacht haben. Das setzt sich bis heute fort. Auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag zum Beispiel war für mich das schlimmste Erlebnis, daß ein westdeutscher Kollege, den ich eigentlich sehr schätze, aufstand und sagte: Bei den Kandidaten für den Hauptvorstand ist doch irgendetwas. Der eine Nebelkerze in die Gegend schmeißt, ohne Roß und Reiter zu benennen. Die kommissarischen Geschäftsführer und zwei, drei Kollegen sitzen gemeinsam mit mir den Rest der Nacht zusammen und versuchen die Sache zu klären. Am nächsten Morgen muß erst eine offizielle Aufforderung ausgesprochen werden, Namen zu nennen. Das fand ich schon schlimm. So etwas durfte man nicht machen. Da ist mir deutlich geworden, daß der Spaltpilz schon in der Organisation sitzt. Ansonsten war das ein Gewerkschaftstag, der bedauerlicherweise immer noch von Wessis dominiert wurde, obwohl es der Vereinigungskongreß war. Vor allem die Ostdeutschen hätten ihre Meinung und ihre Wünsche dazu sagen können. Aber wir waren zufrieden, daß die Ost-Kollegen mit den Spielregeln des Kongresses noch nicht vertraut waren. Diese Arroganz bringen wir aus dem Westen mit. Daß auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag in Nürnberg das Thema Ostdeutschland, das Thema Vereinigung fast keine Rolle gespielt hat, dass niemand, außer einer Kollegin aus Münster, glaube ich, danke schön gesagt hat für die Arbeit, die wir gemacht haben, das fand ich furchtbar. Für mich heißt das, daß dieses Stück Geschichte offensichtlich in der Organisation keine Rolle spielt oder man versucht, es herunterzuspielen. Schlimm. Organisationen leben ja nicht nur davon, daß sie ihre Inhalte vermitteln, ihren Organisationszweck umsetzen, sondern daß – ob das ein Sportverein ist, die Kirche, Gewerkschaften oder Parteien – auch eine Organisationskultur entsteht. Wenn das nicht gelingt, gelingt es auch nicht, dauerhaft sicherzustellen, daß der Organisationszweck realisiert werden kann. Dieses kulturelle Defizit besteht im Augenblick bei uns. Daß das, was geleistet worden ist von unseren ostdeutschen Kollegen, die sich in unsere Arbeit eingebracht haben wie auch teilweise von unseren Kollegen aus dem Westen, daß das keine Würdigung findet, daß wird der Organisation nicht gut tun, daß wird ihr lange, lange schaden. Irgendwann, denke ich mal, gibt es Leute, die sich daran rückblickend erinnern werden. Aber bis es soweit ist, geht zuviel kaputt.