Renate Hürtgen

Initiative unabhänige Gewerkschaften
Initiative unabhänige Gewerkschaften
Video 1 – 2:31
Mitbestimmungi
Wiedervereinigungi
Video 2 – 2:55
Betriebsgewerkschaftsleitungi
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)i
Ich hatte nicht, das gab es auch, ich hatte nicht, sagen wir mal, irgendwie eine klassische Räterepublik vor Augen, so was gar nicht. Das hätte ich auch aus vielen Gründen nicht gehabt, aber auch aus realistischen nicht. Aber ich hatte die Hoffnung, das ist wahr, dass zum Beispiel eine Interessenvertretung entsteht, die eben wirklich von unten kommt, wo sich nicht gleich wieder so ein großer Apparat drüber stülpt, der sich irgendwie verselbstständigt, sondern wo also wirklich eine Bewegung da ist, wie eben eine soziale Bewegung auch, die sich selber tragen, die etwas bewirken, die zum Beispiel auch die Mitbestimmungsrechte erweitern, also mehr als so ... auch das wusste ich ja nun schon, was da möglich ist im Westen, etwas mehr möglich ist. Das ist wahr, so eine Hoffnung hatte ich. Also ich hatte die Hoffnung, dass ... nein das ist jetzt wieder aus heutiger Sicht, aber ich sage es trotzdem mal, aus heutiger Sicht formuliert, so rum vielleicht dann gesagt: Ich hätte schon ganz doll gehofft, dass dieser Prozess dieses Aufbegehrens, des sich Kümmerns – überall wurden Kommissionen gegründet, dass sich alle Leute ... Medientische, Runde Tische, es war wirklich so eine allgemeine Aufbruchsstimmung, was so das Mittun und die Selbstorganisation betrifft – und da habe ich schon gehofft, dass diese Zeit mindestens länger dauert, mindestens vielleicht so ein Jahr oder zwei, dass man ... Ja, das war so ein Lernprozess, der da so begann. Das ist richtig und das ist in gewissem Sinne enttäuscht worden so. Also insofern: Ich gehöre nicht zu denen ... Ich hatte zwar auch die deutsche Einheit nicht forciert, weil ich hätte mir gewünscht, dass – und zwar auch unter diesem Aspekt, den ich eben genannt habe, dass dieser Prozess der Eigenständigkeit länger dauert, weil dann eben solche Lernprozesse ja vielleicht auch länger gedauert hätten, weiß ich nicht, vielleicht wäre es auch anders dann verlaufen, aber das ist wahr. Ich war also nicht dafür, dass sofort eine Einheit herzustellen ... weil das war mir schon klar, dass dann dieser Prozess abgebrochen wird. Weil dann, klar, dann kommen die vorhandenen Strukturen und dann ist Schluss mit lustig. Und insofern war da eine gewisse Enttäuschung, aber ich gehöre nicht zu denen, die gesagt haben: „Mit der deutschen Einheit ...“, also wie soll ich sagen, ich hatte nicht irgendwie Angst vor der deutschen Einheit im Sinne von: „Ich will ja hier einen wahren Sozialismus und jetzt kommt da der Kapitalismus.“
Auf der Bezirksebene, auf Landesebene und – auf Bezirksebene vielleicht weniger – aber eben so auf der Ebene von Einzelgewerkschaften, Kreisebenen und so was, da gab es Kollegen, Kolleginnen und Kollegen, die eine Initiative ergriffen haben, die versucht haben eine neue Formierung zu schaffen. Ich muss sagen, ich weiß gar nicht so ganz genau, inwieweit sie, inwieweit dann diese verschiedenen Initiativen in diese Struktur eingegriffen haben und was sie für Vorstellungen hatten, das weiß ich gar nicht. Das liegt einfach daran, dass ich mit meiner Sache so beschäftigt war, dass ich die vielen Dinge, die da noch passierten, einfach nicht so zur Kenntnis genommen habe. Also das war so eine Ebene, das weiß ich schon, dass da viel passierte. Ich weiß auch, dass Kollegen dann aus Bernau, aus der Gewerkschaftshochschule Bernau, sich auch formierten oder einige zusammengesetzt hatten und überlegt haben, wie kann man das hier nun ... wie kann man eine neue Gewerkschaftsstruktur, ein neues Gewerkschaftsverständnis ... wie sollte das aussehen und wie kann man hier was aufbauen. Ich glaube und ich denke, dass das sich, dasselbe, so was ähnliches sich auch noch bis in den Betrieb herunter fortsetzte. Also tatsächlich waren auch eine Reihe von BGL´en also Betriebsgewerkschaftsleitungen, auf der betrieblichen Ebene, damit beschäftigt zu überlegen: Neuwahl, neue Leute, neue Strukturen, neues Selbstverständnis. Das gab es. Und das war so, ich denke, dass das relativ vielfältig war, was da, das würde ich jetzt immer noch nennen, innerhalb der FDGB-Strukturen oder Einzelgewerkschaftsstrukturen passierte. Und dann gab es auch wieder eine Unmenge von verschiedenen Formen in denen sich dann die Leute, die also jetzt nicht innerhalb oder mit den Strukturen, oder mit den Personen oder den Funktionären des FDGB – ich sage jetzt FDGB immer als Synonym, setze ich jetzt immer auch für Einzelgewerkschaften mit jetzt, es geht jetzt nicht nur um den Bund, das war ja in der DDR halt so der Sammelbegriff, wir haben ja auch gezahlt an den FDGB, insofern ist das eben für mich immer: Die Gewerkschaft war FDGB – also außerhalb dieser Gewerkschaftsstrukturen gab es auch sehr viel und wir waren eigentlich nur eine Form dieser, so einer Initiative von außerhalb, also zu sagen, die Leute sollen sich jetzt sammeln, sollen in Betrieben Gewerkschaftsgruppen oder Alternativgruppen bilden und dann, wenn es dann zu einer Bewegung kommt, auch daraus sollte sich dann eine möglicherweise neue, sehr basisdemokratische Gewerkschaft entwickeln. Und das war ja überhaupt das Credo der gesamten Revolutionszeit und auch dieses betrieblichen, dieser betrieblichen Wende: Alles musste basisdemokratisch passieren.
Es hat ja ein, sofort ein bis dahin unbekannter Deindustrialisierungsprozess stattgefunden. Innerhalb von zwei Jahren war alles erledigt. Das ist ja wirklich eine ganz besondere Situation, auch für Gewerkschaften. Aber sie hat ihren alten ... Sie hat sozusagen ihr Verständnis als eine, eben, Sie haben auch eben gerade die Frage gestellt, als eine Institution, als eine Organisation, die sich um bestimmte Dinge zu kümmern hat und bestimmte nicht, beibehalten. Sie hat also auf diese ganze Treuhandsituation, also sozusagen diese gesamtgesellschaftliche Abwicklung, die da stattfand und dann noch in einer gruseligen Raubritter Art und Weise, sie hat überhaupt kein Instrumentarium gehabt und ich glaube auch letztlich kein richtiges Interesse gehabt, darauf politisch zu reagieren. Darauf hätte man nur politisch reagieren können. Also wenn die Gewerkschaften generalstreikmäßig, Generalstreik ist ein Synonym für eine bestimmte ... ich weiß nicht, ob man das anders hätte machen können, generalstreikmäßig auf diese Situation reagiert hätte: „So nicht!“, als Gewerkschaften, dann hätte sie durchaus Weichen stellen können, selbstverständlich. Weil das war damals, so weit war es schon noch offen, dass man die Mithilfe der Gewerkschaften brauchte, bei dieser ganzen Geschichte. Das hat sie nicht gemacht, sondern sie hat einfach, so wie sie es eben immer gemacht hat, sich branchenspezifisch gekümmert und den Versuch gemacht, irgendwie zu retten, was zu retten ist, und das war für diese Situation einfach eine aussichtslose Angelegenheit. Und sie hat sich insofern dann auch in vielen Fällen zum Handlanger dieses ganzen Prozesses gemacht, sie hat also nicht gegengesteuert, also dieses Prozesses, der aus meiner Sicht und das ist auch allgemein im Augenblick Konsens, denke ich, diese Abwicklung oder diese Deindustrialisierung, dieser Vorgang ist in einer durchaus, also man hätte ihn durchaus anders gestalten können. Er ist in einer Weise passiert, wie er nicht zwangsläufig hätte passieren müssen. Die Wirtschaft war marode und es war selbstverständlich, dass da einiges passieren musste, aber wie es passierte, das hatte nichts mehr mit dieser Notwendigkeit zu tun. Das war dann die Konkurrenz auch. Sie kennen vielleicht das schöne Beispiel aus Kali, Bischofferode, da gab es diese Stilllegung dieses Werkes, die aus keinen anderen Gründen passiert ist, nur um die Konkurrenz im Westen, die, wie ich gerade heute gehört habe, auch jetzt am Untergang ist, um die zu schützen. Und die Gewerkschaft hat mitgemacht und das Ganze ist dann ... ja, das Werk ist geschlossen worden.
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Renate Hürtgen wurde am 7. Oktober 1945 in Berlin geboren. Nach einer Ausbildung zur Unterstufenlehrerin und der der Tätigkeit im erlernten Beruf von 1966 bis 1970 nahm sie ein Studium der Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin auf. 1977 wurde sie promoviert. Anschließend arbeitete sie bis 1990 als Kulturreferentin an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften, Institut für Philosophie.

Seit 1987 war Hürtgen in der Oppositionsgruppe Friedrichsfelder Friedenskreis aktiv und gehörte 1989 zu den Gründungsmitgliedern der Initiative für unabhängige Gewerkschaften. Beruflich setzte sie seit 1990 ihre wissenschaftliche Arbeit in verschiedenen Forschungsprojekten fort, von 1998 bis 2013 arbeitete Hürtgen als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorischen Forschung Potsdam e.V. Sie publizierte zu den Themen FDGB, Betriebsalltag, Arbeiter und Angestellte in der DDR, Frauen, Staatssicherheit im Betrieb, Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz, demokratische Revolution sowie zur Frage, wie eine alternative Gesellschaft organisiert sein sollte.

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