Gertraude Sinn

Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft
Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft
Audio 2 – 1:58
Gewerkschaft ÖTV in der DDRi
Audio 3 – 2:09
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)i
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)i
Ich kann mich erinnern, dass ich `84 von einer Auslandsreise in die CSSR zurückgekommen bin mit Vorschlägen, wie man die ehrenamtliche Arbeit verändern könnte. Man sollte nicht nach sogenannter sozialpolitischer Zusammensetzung wählen, sondern man müsse Leute gewinnen, die interessiert sind. Das spielte damals schon eine Rolle. Jahr um Jahr haben wir versucht, mehr von dem durchzusetzen, dass Gewerkschaften Schutzfunktion haben müssen für die Mitglieder. Wir sind bei allen Bemühen immer an dem Einwand gescheitert, die volkswirtschaftliche Situation ließe es nicht, wir müssten verstehen, die volkswirtschaftlichen Möglichkeiten seien nicht so. An dem, was wir innerhalb des Systems ändern wollten, sind wir nicht vorwärts gekommen. Aber ich muss ehrlich sagen, bei allem, was innerhalb der Organisation oder auch darüber hinaus gebrodelt hat, es wurde zu keiner Zeit das System in Frage gestellt. Die Diskussionen gingen mehr in die Richtung: es sind die falschen Leute am Ruder, die Leute müssen weg und dann kriegt man das auch wieder in Ordnung.
Wir kamen dann auf die Idee, die Mitglieder zu fragen. Wir haben dann versucht, eine Art Urabstimmung zu machen. Das Wort ist sicherlich zu hoch gegriffen, weil wir zu diesem Zeitpunkt gar keine konkreten Mitgliederlisten hatten. Wir haben auf jeden Fall so um die 300.000 Fragebögen herausgegeben und drei Möglichkeiten gelassen: entweder die Gewerkschaften sollten sich zusammen schließen, die DDR-Gewerkschaften, oder ein Zusammengehen mit der ÖTV in der DDR oder gleich ein direktes Zusammengehen mit der ÖTV. Ich habe die Statistik selbst gemacht, die Rückantworten, die kamen. Das ging wie geschmiert. Es gab sicherlich auch Bereiche, wo mancher nicht hingegangen ist mit seinem Fragebogen und die nicht gefragt worden sind, deshalb will ich nicht sagen, das sei repräsentativ für alle gewesen. Aber die Antworten, die eingegangen sind, habe ich prozentual ausgewertet. Da waren über 90% für ein direktes Zusammengehen. Deshalb gab es im Juni diese Vereinbarung über das direkte Zusammenwachsen, wie immer sich das auch gestalten sollte. Das war wirklich eine echte Mitgliederentscheidung. Das hatte nichts damit zu tun, dass die Mitglieder das, was wir aufgebaut hatten, nicht mehr haben wollten. Im Gegenteil, sie haben es sehr genossen, dass wir eine neue Struktur hatten, die ihren Vorstellungen entsprach. Diese Struktur haben wir im Januar mit den gewerkschaftlichen Fachverbänden begonnen. Das, was in der ÖTV die Arbeitsgruppen sind, hatte bei uns vielleicht eine noch höhere Bedeutung. Unsere Fachgruppen hatten noch mehr zu entscheiden und mehr zu sagen. Darüber haben wir auch die Wahlen durchgeführt, d.h. die Delegierten zur Konferenz gewählt. Da hatten wir nochmal einen richtigen Aufschwung, ein richtig starkes Engagement.
Es gab ein wirklich rundherum funktionierendes System, das bei den territorialen Vorständen noch stärker ausgeprägt war als bei den Zentralvorständen. Jeder Bezirksvorsitzende des FDGB saß im Sekretariat der SED-Bezirksleitung, jeder Kreisvorsitzende saß im Sekretariat der SED-Kreisleitung und lief die Arbeit nicht so oder funktionierte der FDGB nicht so, bekam er dort Prügel. Also, das war ein ganz normales System, jeder BGL-Vorsitzende saß in der Parteileitung, das war wirklich funktionierend. Es gab ein paar Lücken und das waren die Einzelgewerkschaften. Die wurden nur mittelbar beeinflusst, die saßen nicht direkt in dieser Kontrolle, aber sie wurden auch beeinflusst. Deswegen, ich habe ja heute schon das Beispiel genannt, gab es diese Fachabteilungen beim Zentralkomitee, die sich mit uns befassten und die auch regelmäßig an den Vorstandssitzungen teilnahmen. Sie haben bestimmte Sachen beeinflusst, manchmal positiv, manchmal negativ, aber insgesamt waren wir nicht ganz so in dem Druck drin. Wir konnten, das ist auch wahrscheinlich der Vorteil, dadurch, dass wir vom Zentralvorstand kamen und nicht direkt dem Bundesvorstand in jeder Frage rechenschaftspflichtig waren, vieles sagen. Wir konnten nicht viel verändern, aber es war ein Unterschied, ob man aus Berlin kam und die Sachen ansprechen konnte oder ob man der Kreisvorsitzende vor Ort war. Ich wusste, am nächsten Morgen muss er antanzen, wenn etwas nicht richtig lief. Der musste sich eben anpassen oder der passte sich an. Mancher passte sich nicht an, dann musste er gehen. Die Spielmöglichkeiten oder die Spielräume waren ja nicht weit gespannt. Aber im Zentralvorstand hatte man, wenn man wollte, ein paar Möglichkeiten mehr. Es wollte sie auch nicht jeder ausschöpfen, das muss ich sagen. Weil, von dem, was eine Gewerkschaft sein sollte, auch das habe ich ja vorhin angeschnitten, waren wir weit entfernt.
Herunterladen Drucken

Nach Abschluss ihres Studiums wurde Sinn Sekretärin für Jugend und Sport des FDGB-Bezirksvorstands Suhl. 1981 wechselte sie als hauptamtliche Sekretärin des Zentralvorstandes zur Gewerkschaft der Mitarbeiter der Staatsorgane und der Kommunalwirtschaft (MSK), wo sie zuständig war für Fragen der Wohnungspolitik, der Wohnungswirtschaft und der Sozialpolitik, ab Januar 1990 für Mitbestimmung. Seit ihrem Wechsel zur MSK war sie zudem ehrenamtliches Zentralvorstandsmitglied der Gewerkschaft.

Sinn, die Anfang Dezember 1989 aus der SED austrat, wurde im Juni 1990 zur stellvertretenden Vorsitzenden der in Gewerkschaft Öffentliche Dienste umbenannten MSK gewählt. Nach Auflösung der Gewerkschaft war sie eine von drei gewählten Liquidator_innen.

Herunterladen Drucken